10 Feb 2016

Vom Stahlungeheuer zur Kuschellok – Was Bahnfahren heute für mich ist

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„Loko-Motive“ – Lokalaugenblick in Geborgenheit

Ein Blick aus dem Zugfenster. Irgendwie fühle ich mich „dazwischen“, weder richtig weg noch richtig da. Aber: der kribbelnde Schwebezustand der Zugfahrt, ein Mix aus „weg von“ und „hin zu“, Verarbeitung des Zurückgelassenen und Erwartung des Ziels, kondensiert sich im Fokus des Moments. Als Altlateiner fällt mir ein, dass „Moment“ wohl von „movere“ (Bewegung) kommt, ein „Moment“ also nicht nur ein möglichst kleiner Zeitabschnitt ist, linear wie ich ihn wahrnehme. Es ist vor allem, wo etwas passiert! Das Leben, mein Leben, besteht nur aus solchen Momenten, Erinnerungen an wichtige Ereignisse wie den ersten (vermasselten) Kuss oder die Urkundenverleihung auf der viel zu biederen Doktoratsfeier.

 

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Im Moment fühle ich mich geborgen, obwohl die krächzenden Zugdurchsagen in unverständlichem Denglisch sich mischen mit quietschenden Rädern. Entschuldigungsblicken von Zuggästen, die ihre Koffer in dem engen Durchgang allenthalben gegen mein Armgelenk stoßen, treffen mich aus dem Augenwinkel. Geborgenheit war für mich immer warmes Lager- oder Karminfeuer, unter der Kuscheldecke zu zweit, am schönen Sandstrand oder im lichtdurchfluteten Wald mit den schützenden Baumkronen über mir. Bahnfahren verband ich meist mit Hektik und Verspätung, stickiger Luft und viel Geld für vergeudete Zeit – aber jetzt nicht mehr!
Heute vermitteln mir weniger Institutionen wie der Rechtsstaat oder die Familie sondern Räume, die ich mir angeeignet habe, Geborgenheit. Das kann oft ein öffentlicher Platz sein, den andere vor mir und noch mehr nach mir schon benutzt haben. Jungfräulichkeit ist für diese Beziehungsebene keine Voraussetzung, so wie ich morgens (old school) die ungelesene Zeitung aufblättere, mir der Virginitätsduft unschuldiger Druckerschwärze entgegenströmt und mit Kaffeegeruch paart.

 

Glokalisierung – alles „auf Schiene“ in Gleiswelt

Gern arbeite ich am Laptop in öffentlichen Bibliotheken, eingekesselt zwischen Erstsemesterstudis, die für den nächsten Prüfungsmarathon lernen. Oft bin ich in Wien im Kaffeehaus und genieße die Gemütlichkeit, auch bei Konsumation nur eines kleinen Espressos den halben Tag sitzen bleiben zu dürfen. In Parks habe ich „meine Plätze“ auserkoren und steuere unterbewusst, aber zielsicher auf die vermeintlich beste Stelle auf der Sonnenwiese oder die schönste Sitzbank zu. Globalisierung erschafft den Drang zu Glokalisierung, die mir in der Verlorenheit und Anonymität der digitalen Welt greifbare, lokale Räume als Halt im Jetzt bietet.
ZugfahrtUnd, ja, öfters nun entdecke ich die Vorzüge des Zuges. Nicht die Kurzstrecke, wo es darum geht, schnell und günstig von A nach B zu kommen, wo früh morgens gähnende Gestalten ungelenk die Frühstückskrümel von den verschlafenen Körpern wischen oder sich in der Dämmerung der sog. „Feierabend“ als Transitzone zwischen Arbeit und Freizeit am Bordrestaurant als überteuerte Afterwork-Lounge manifestiert. Ich meine Bahnfahrten (auch) um des Reisens willen; nicht nur als Zweck denn als Selbstzweck, einen angeeigneten Raum zu nutzen. Insa Müller z.B. hat mehrere Monate lang mit der Bahn 19 Freunde in 12 Städten besucht. Für Leonie Müller war es schlicht eine logische Folgerung, ihre Wohnung ganz zu kündigen und für ein ganzes Jahr mit der BahnCard-100 Zugabteile und Übernachtungen bei Familie und Bekannten gegen „die eigenen vier Wände“ zu tauschen.

 

Kaffeehaus oder Railjet – hat die Eisenbahn die Nase vorn?

einstein-212102An meinem äußeren Auge ziehen tranceartig die Fäden der Landschaft vorbei. Jeder „Moment“ bewegt sich auch physikalisch in Form von beschleunigten Bruttoregistertonnen, die vor meinem inneren Auge aber gleichmäßig und fast schwerelos über die Gleise schweben. Ich denke an die gekrümmte Raum-Zeit der speziellen Relativitätstheorie und frage mich, ob mich Zugfahren (wenigstens) in bisschen weniger schnell altern lässt. Nach Einstein jedenfalls gehen bewegte Uhren langsamer als ruhende, weshalb mich die Zugbeschleunigung (paradoxerweise) nicht nur entschleunigt sondern auch noch verjüngt – wow!
Im Zug traf man früher allerhand nerviges Klientel an, heute gibt es handytonfreie Ruhebereiche, saubere, gepolsterte Sessel mit Stromanschluss und (unzuverlässigem) WLAN. Mein Eindruck ist, dass sich vermehrt die literarische Boheme auf das Zugfahren stürzt und dem hippen Kaffeehaus die Nummer eins streitig macht. Künstler/innen wie Intellektuelle umgeben sich heute mit der Flow-Wolke des Zugnomadismus in Wagon Nummer 17 oder 38.
vienna-647328Das Kaffeehaus hatte einmal eine spezifische Funktion als Geburtsstätte einer intellektuell-bürgerlichen Szene im 19. Jahrhundert, als die offene Architektur zu zwanglosen Streitgesprächen über Demokratie und zu literarischer Inspiration oder schlicht ungestörtem Zeitunglesen und Frühstücken einlud. Das Zugabteil kombiniert heute umweltbewussten, entspannten Transport mit kreativer Meditation, ob beim Rausschauen oder MP3-Hören. Für viele wurde Zugfahren schlicht aus der Not der Tugend geboren: Immer mehr Menschen pendeln wieder (täglich) aufgrund geschuldeter „Job-Flexibilität“ wie besserer Taktungen (zumindest in urbanen Gebieten) und nutzen die Ruhe zum Abschalten oder zur Vorbereitung auf den Tag. Professoren/innen und Lehrer/innen korrigieren hier Klausuren, Journalisten/innen bloggen und junge Eltern nehmen sich oft seit langem mal wieder die Zeit, ungestört in ein „gutes“ (meist aber doch nur ein „neues“) Buch hinein zu schmökern.
Nur die Verpflegung ist und bleibt einfach grottig – wer kurz geistig abwesend ist, erkennt daran schnell wieder, wo er/sie sich befindet. Wieso ist das Essensangebot bei mittlerweile jedem Billigflug auf engstem Raum besser als in den modernsten Zügen? Ich wittere kurz eine Marktlücke als potenzieller Creative Director der MITROPA-Reloaded-Food-Company, träume von frischem und gesunden Bio-Sandwiches, die mir der Schaffner gegen VISA-Scan auf echtem Geschirr serviert und passiere zeitlos den nächsten Bahnhof – „der Zug der Zeit hat keine Haltestellen“ (Carl Merz).